Dienstag, 30. September 2008

Welche Krebsepedemie

Einer der unverantwortlichsten Artikel, den die Zeitschrift eigentümlich frei in den letzten Monaten veröffentlicht hat, stammt von Torsten Engelbrecht (seine Website macht er mit einem Nietzsche-Ziat auf), der in der September-Ausgabe unter der Überschrift "30 Jahre Krieg und kein Sieg in Sicht" veröffentlicht wurde. Der Autor wird als "Wirtschafts- und Wissenschaftsjournalist" vorgestellt und seine von eifrei verbreiteten Thesen lassen den Leser ins Grübeln darüber kommen, was diesen Artikel für die Veröffentlichung in einem radikalliberalen Blatt qualifiziert. Was behauptet der Autor? Zunächst einmal soll es eine Krebsepidemie geben. Dieses Wort verwendet er zwar nicht, aber es ist genau das, was er meint. Nun ist Krebs überwiegend eine Alterserkrankung und mit einer zunehmenden Lebensdauer -wie sie die westlichen Gesellschaften ermöglicht- würden eben diesen Krankheiten zunehmen. Torsten Engelbrecht behauptet aber einen Anstieg von Krebserkrankungen quer durch alle Altersgruppen, wozu er eine Statistik aus dem Buch Cancer-Gate: How to Win the Losing Cancer War von Samuel S. Epstein abdruckt. Seltsamerweise wird in dem Artikel allerdings nie erklärt, wieso es zu derartig signifikanten Anstiegen bei einzelnen Krebsarten überhaupt kommen konnte. Wer sich allerdings die Leserkritiken des Buches von Samuel S. Epstein -von Engelbrecht als "internationale Autorität"(man beachte die Wortwahl: nicht "Kapazität", sondern "Autorität")- einmal auf Amazon.com ansieht, sieht sich in seinen Vermutungen bestätigt, dass die moderne Industriegesellschaft, vor allem die chemische Industrie, als Verursacher dieser Entwicklung angesehen wird. Ein Leser beschreibt, dass Dr. Epstein ein "beinahe enzyklopädisches Wissen darüber hat, wie Chemikalien unsere Umwelt vergiftet haben." Aber damit nicht genug: Wo uns Chemikalien vergiften, droht weiteres Ungemach dann, wenn wir tatsächlich krank geworden sein sollten, denn die Pharmaindustrie ist ignorant und geldgierig. Ignorant, weil sie der "Gen-Mutations-Hypothese" anhängt, die "Voodoo Science" gleichkommt. Kein Wunder also, dass die Pharmaindustrie keine wirksamen Medikamente präsentieren kann, was sie allerdings nicht davon abhält, uneffektive Medikamente zu horrenden Preisen auf den Markt zu bringen, weil sie, wie Engelbrecht Samuel Epstein zitiert, "mehr daran interessiert (sei), Reichtum anzuhäufen, als Leben zu retten." Was hier in einer radikalliberalen Zeitschrift präsentiert wird ist nichts anderes als das ökologistische Dogma, dass die Produkte der chemischen Industrie eine Epidemie bei menschlichen Krebserkrankungen verursacht, gleich noch gepaart mit dem antikapitalistischen Dogma, dass die Pharmaindustrie geldgierige Abzocke betreibt. Aber gibt es überhaupt die beschriebene Krebsepidemie? Nein, sagt der Wissensschaftsjournalist Ronald Bailey von der liberalen Zeitschrift REASON. Zahlen der American Cancer Society (siehe auch Cancer Facts & Figures 2005) weisen einen Rückgang der Krebserkrankungen seit den frühen neunziger Jahren aus. Die erhöhten Zahlen von Brust- und Prostatakrebserkrankungen in den achtziger Jahren gehen zurück auf verbesserte Früherkennungsmethoden, was dazu führte, dass die Zahlen temperär anstiegen, was aber nichts mit dem Auftreten einer Epidemie zu tun hat. Auch die 5-Jahres-Überlebensrate hat sich erhöht, was aus dem Zusammenspiel aus verbesserter Früherererkennung und verbesserten Behandlungsmethoden zurückgeht. So berichtet die Tageszeitung DIE WELT gerade von einer verdopptelten Überlebensrate nach fünf Jahren im Vergleich zu 1985 bei Patienten mit Dickdarmkrebs, immerhin die zweithäufigste Krebserkrankung in Deutschland. Die verringerten Krebszahlen haben auch nichts zu tun mit veränderten Chemikalien oder einem veränderten Einsatz von Chemikalien, da diese nur zu einem sehr geringen Umfang überhaupt für Krebserkrankungen verantwortlich sind (1-5 %): "Die Hauptursache der Krankheit ist das Rauchen, was für ungefähr 30 % der Krebsfälle verantwortlich ist. Die Ernährung -speziell der Verbrauch von tierischem Fett- ist für 20 bis 50 % verantwortlich, und die natürlichen Fortpflanzungshorme machen 10 bis 20 % aus. Ein großer Teil der Rückgänge bei den Erkrankungen und den Todesfällen kann dem scharfen Rückgang bei der Zahl der Raucher zugeschrieben werden." Soweit Ronald Bailey. Wenn eigentümlich frei in Zukunft wieder Bedarf an Wissenschaftsthemen hat, sollte die Zeitschrift einfach auf solch kompetenten und aufgeklärt-liberalen Autoren wie Bailey zurückgreifen.

Anmerkung: Erstveröffentlichung am 15. 01. 2006